Stimmen der Bauchemie
Bauchemie - Das unbekannte Wesen
Seitdem der urzeitliche Mensch Homo erectus vor ca. 350.000 Jahren erstmals seine Höhlen verlies und sich einfachste Behausungen errichtete, ist das Bauen untrennbar mit dem Leben der Menschen verbunden. Ohne Bauen würde unser tägliches Leben zusammenbrechen. Keine Häuser, keine Verkehrswege, keine Industrieanlagen – ohne das Bauen wären wir auf dem Niveau des Steinzeitmenschen. Bauen war zu allen Zeiten eine wichtige Grundlage für hochentwickelte Zivilisationen.
Und die Bauchemie? Nun, sie war bereits länger dabei als manch einer denkt. Nicht als Industriezweig. Sehr wohl aber in wohlgehüteten Rezepturen, die die Baumeister der Vergangenheit vor ihren Konkurrenten mit aller Sorgfalt verbargen. Dort wurde Kalk mit Ochsenblut gelöscht und mit Ziegelmehl gemischt, um den Mörtel wasserfest zu machen. Da wurde Ölhefe mit Kalkmörtel vermengt, um frostbeständige Verfügungen herzustellen. Auch wurden den frühzeitigen römischen Betonen Blut und Milch zugegeben, um sie abzudichten. Die Rechnungen für den Bau des Prager Doms, die den Verbrauch tausender Eier auswiesen, stellten die Nachwelt zunächst vor ein Rätsel. Bis sich herausstellte, dass die Eier dem Mörtel zugegeben wurden, um dessen Geschmeidigkeit zu erhöhen. Auch das war Bauchemie. Die Wirkung dieser frühzeitlichen Additive war „gut informierten Kreisen“ damals sehr wohl bekannt. Über die genauen Wirkmechanismen wusste man hingegen nicht sehr viel.
Die moderne Bauchemie ist mit den heute zur Verfügung stehenden Methoden und Verfahren in der Lage, die damals eingesetzten Stoffe durch Hochleistungsmaterialien zu ersetzen, die nachhaltig hergestellt werden und eine vielfach stärkere Wirkung zeigen als die früheren Materialien. Kein Ochse muss heute mehr sterben für die Wasserbeständigkeit eines Mörtels, kein Pferd muss seine Haare opfern zur Vermeidung von Rissen und kein Wein muss mehr verschwendet werden, um Kalk zu löschen.
Von allen Baumaterialien ist der Beton das mit großem Abstand am meisten genutzte Material. Sagenhafte 10 Milliarden Kubikmeter Beton werden jedes Jahr weltweit verbaut. Damit ist der Beton nach dem Wasser der auf dieser Erde am häufigsten genutzte Stoff. Kein Wunder also, dass die Bauchemie im Bereich der Betontechnologie den größten Absatzmarkt findet. Dies war beim neuzeitlichen Beton nicht immer so. Viele Jahrzehnte wurde der Beton ganz traditionell als 3 Stoffsystem mit Gesteinen, Zement und Wasser hergestellt. Seine Leistungsfähigkeit war entsprechend begrenzt. Dies lag insbesondere auch daran, dass die Betonbauer wenn sie Betone gut verarbeiten und in die Form bringen wollten, regelmäßig den Wasserhahn aufgedreht haben. Diese wasserreichen Betone konnten weder das Festigkeitsniveau heutiger Massenbetone erreichen noch dessen Langlebigkeit. Heute liefert die Bauchemie auf den jeweiligen Verwendungszweck angepasste Betonverflüssiger und Fließmittel, so dass bei hervorragender Verarbeitbarkeit sehr hohe Festigkeiten möglich sind.
Fast täglich werden durch die Bauchemie neue Anwendungsfelder erschlossen. An meinem Lehrstuhl an der Bauhaus-Universität Weimar beschäftigen wir uns sehr intensiv mit diesen spannenden Themenfeldern. Wie kann man die Baustoffe durch Bauchemie noch effektiver, noch leistungsfähiger machen. Wie kann man sie noch besser an die hohen Anforderungen einer entwickelten Industriegesellschaft anpassen. Welche Wege stehen uns offen, um mit Bauchemie noch besser und insbesondere noch nachhaltiger zu bauen. Betone werden mittelfristig aus einem 3D-Drucker kommen. Ohne Bauchemie undenkbar. Fassaden werden bald auf natürliche Weise begrünt werden, ohne die Bausubstanz zu gefährden. Keine Chance ohne Bauchemie. Recyclingprozesse werden so effektiv gestaltet werden, dass wir bald viele Stoffkreisläufe schließen und dabei natürliche Ressourcen einsparen können. Nicht möglich ohne Bauchemie.
Und einen zentralen Punkt möchte ich nicht vergessen. Die Bauchemie wird uns helfen unsere Baustoffe CO2 ärmer zu produzieren und anzuwenden. Momentan ist beispielsweise die Herstellung von Zement noch für 6 bis 8 % des gesamten menschengemachten CO2 auf diesen Planeten verantwortlich. Eine unglaubliche Menge! An Alternativen wird weltweit fieberhaft gearbeitet. Auch bei uns in Weimar. Was immer deutlicher wird bei dieser Entwicklung – ohne Bauchemie werden wir unsere hochgesteckten Ziele hin zu möglichst klimaneutralen Baustoffen nicht erreichen.
Ich freue mich, dass ich als Lehrstuhlleiter eines der größten Baustoffinstitute in Deutschland diese faszinierende Entwicklung nicht nur begleiten, sondern aktiv mitgestalten kann. Bauchemie ist spannend und vielseitig. Und viele, die zunächst als ChemikerIn, BauingenieurIn oder VerfahrenstechnikerIn skeptisch waren, sind heute mit Begeisterung dabei.
Verfasser
Prof. Dr.-Ing. Horst Michael Ludwig
Institutsleiter F. A. Finger-Institut für Baustoffkunde
Bauhaus-Universität Weimar