Stimmen der Bauchemie
Bauchemie nutzt die Natur als Vorbild
Fast unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit hat auch im Bereich Bauen, Wohnen und Infrastruktur ein außerordentlicher Umbruch stattgefunden. Im Gleichschritt mit der Entwicklung der Menschheit hat sich auch unser Fortschritt im Bauen und Wohnen entwickelt. Durch den steigenden Anspruch an die Funktion und Dauerhaftigkeit von Bauwerken sind auch die Anforderungen an die Baustoffe gestiegen. Auch wenn viele es auf den ersten Blick nicht erkennen: Die Baustoffe haben sich ähnlich rasant weiterentwickelt wie unsere Verkehrsmittel. So, wie sich unsere Mobilität von der Pferdekutsche hin zu High-Tech-Fahrzeugen weiterentwickelt hat, haben wir auch die Baumaterialien radikal verändert, z.B. vom einfachen Kalkmörtel hin zum Hochleistungsbeton. Es wurden multifunktionale Wandputze mit eingebautem Wärmespeicher und anderen Funktionen entwickelt. Sie können nicht nur Schadstoffe vom Haus fernhalten, sondern sogar neutralisieren. Einige Beschichtungen halten auch den aggressivsten Bedingungen z. B. in einer Kläranlage stand. Quasi unsichtbar für "Otto Normalverbraucher" steht im Hintergrund dieser Entwicklung fast immer die Bauchemie.
Die Bauchemie ist eine interdisziplinäre Ingenieurswissenschaft, bei der unsere interessierten Studierenden viele verschiedene Wissensgebiete mit einander kombinieren können. Die allgemeinen Disziplinen des Bauingenieurwesens bieten den technischen Hintergrund; chemische und physikalische Kenntnisse sind wichtig für die grundlegende Wechselwirkung der Stoffe und die Anwendung der Analytik. Wie vielschichtig die Bauchemie mit ihren Herausforderungen ist, zeigt auch die Zusammensetzung unseres Forschungsteams: Ich bin Chemiker, dann arbeiten bei uns natürlich Bauingenieure, aber auch Nanostrukturwissenschaftler, Werkstoffwissenschaftler sowie Umweltingenieure. Nur in wenigen anderen Wissenschaftsdisziplinen arbeitet man mit so vielen unterschiedlichen Materialien und hat es dabei mit so unterschiedlichen Größenordnungen zu tun. Dabei geht es von Nanomaterialien, mit denen wir z.B. die Zementhydratation steuern und die nur mit einem Elektronenmikroskop sichtbar werden, bis hin zu großen Bauteilen, bei denen wir das Zusammenspiel vieler Komponenten testen müssen.
Und so aufgestellt möchten wir mit dem Fachgebiet die bauchemische Forschung in Deutschland voranbringen, immer im Hinblick auf Energieeffizienz, Ressourcenschonung und neue Ansätze des Recyclings. In 20 Jahren wird ein neues Haus mehr Energie abgeben als verbrauchen. Beim Bau des Hauses wird bereits dessen Abriss mitbedacht - alle Baustoffe werden sich leicht voneinander trennen und recyceln lassen. Eine meiner Visionen sind Systeme, die quasi auf Knopfdruck aushärten und wieder gelöst werden können.
Es werden "selbstheilende" Baustoffe zum Einsatz kommen, bei denen Risse und Schäden von selbst repariert werden und extrem dauerhafte Baustoffe, die den härtesten Umweltbedingungen standhalten. Wir werden bauchemische Produkte mit kontrollierter Wirkstofffreisetzung entwickeln oder multifunktionale Baustoffe, die von selbst korrosive Stoffe überwachen und anzeigen.
Auch intelligente Oberflächen gehören zu unserem Forschungsgebiet. Sie können die Luft reinigen oder je nach Temperatur das Sonnenlicht absorbieren oder reflektieren. In der Bauchemie soll uns zukünftig mehr die Natur - vom Grashalm bis hin zum Schwalbennest - als Vorbild dienen, um so das Prinzip der Bionik auch für Baustoffe anzuwenden.
Und damit die erarbeiteten Ergebnisse nicht nur Visionen bleiben, sollen diese auch zeitnah mit Industriepartnern umgesetzt werden.
Die Bauchemie steht für die Zukunft des intelligenten Bauens.
Prof. Dr. rer. nat. Dietmar Stephan
Leiter der Professur "Baustoffe und Bauchemie"
Institut für Bauingenieurwesen der TU Berlin
Verfasser
Prof. Dr. rer. nat.
Dietmar Stephan
Leiter der Professur
"Baustoffe und Bauchemie"
Technische Universität Berlin
- Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Dietmar Stephan am 17.01.2012